Nix „Germany’s Next Top Model“

Charlotte in Paris

Statt auf Stöckelschuhen zu staksen, will die 20-Jährige ihren Weg als Mode-Managerin machen

Nadine war nur kurz dabei, Jacqueline durfte etwas länger bei Heidi Klum über den Catwalk stöckeln, bevor sie endgültig draußen war. Jüngst platzte auch der Traum für Pauline. Nur Charlotte ist immer noch drin. Mittendrin in der Weltmetropole der Mode ist sie dabei, wenn ebendiese dort erschaffen und geschaffen wird.

Denn Charlotte führt zurzeit ein aufregendes Leben als Gegenentwurf zu den unbedarften jungen Mädchen, die sich für den äußerst vagen Traum eines „Top-Model-Daseins“ körperlich und psychisch von einer gigantischen Marketing-Maschine namens „Germany’s Next Top-Model“ (GNTM) benutzen lassen.

Charlotte Stricker geht ihren eigenen Weg. Nach ihrer Zeit in Frankreich wird sie Mode- und Textilmanagement in Deutschland studieren. Doch derzeit hat die 20-Jährige mithilfe der Jugendaustausch-Organisation Stepin ihren Traum-Praktikumsplatz an der Seine gefunden: Sie arbeitet für zwei Monate im Atelier der Modedesignerin Jasmin Santanen im pulsierenden Pariser Stadtteil Marais im 4. Arrondissement.

Im nicht einmal 100 Quadratmeter großen, dafür aber lichtdurchfluteten Atelier der 40-jährigen finnischen Designerin mit deutscher Mutter entstehen Kleidungsstücke, die zwischen wenigen hundert bis zu 2.500 Euro kosten. Dafür bekommt die werte Kundschaft nicht nur das Gefühl, extrem schick und hochwertig, sondern auch recht exklusiv gewandet zu sein.

Wer durch die Tür in den hübsch gestalteten Hinterhof tritt, findet sich in einer Multikulti-Welt wieder: Zwei Asiatinnen fertigen mit flinken Fingern aus Entwürfen Kleider, an dem einen Schreibtisch telefoniert Francisco (28) mit Boutiquen in seiner spanischen Heimat, an dem anderen fertigt die Französin Solène aus Skizzen fertige Schnittmuster. Und Charlotte erhält in einer Mischung aus Deutsch, Englisch und Französisch von Jasmin letzte Anweisungen. Denn sie soll sich per Metro auf den Weg machen, um die Hauptredaktionen von Elle, Vogue & Co persönlich zur bevorstehenden Jasmin-Santanen-Modenschau einzuladen.

Kein Wunder, Charlotte liebt ihr Praktikum in Paris: Sie besucht – sozusagen dienstlich – häufig Modepräsentationen und die schicksten Boutiquen. Sie schnuppert hautnah hinein in dieses Business rund um Bluse und Blazer. Als „Test-Model“ schlüpft sie in die schönsten Kleider. Und sie lernt eine Menge über Frankreich, die Sprache und Kultur, zu der – ganz wichtig – Essen, Trinken und Kleidung zählen: „Für Franzosen ist Mode Kunst, mit der man sich selbst verwirklicht – ob als Designer oder Käufer.

Hier in Paris kannst du alles tragen, vom Penner-Look über freakig bis hin zu irre edel. Selbst auf der Kö in Düsseldorf geht das schon nicht mehr.“ Doch die 20-Jährige sieht auch die Schattenseiten des Geschäftes: „Das bei GNTM transportierte Bild hat mit der Model-Realität nichts zu tun. Die ist viel härter. Bei Heidi Klum triffst du nicht auf eine halb verhungerte Herde blutjunger russischer Mädels, die wie eine solche behandelt werden und sich nicht verständigen können.“

Richtig erschrocken habe sie sich bei ihrem ersten Casting: „Da waren Models, die waren so dünn (zeigt den kleinen Finger). Die hatten Streichholz-Beinchen, keine Brust und jeder Knochen am Rücken war zu sehen.“ Hören wir da etwa Neid heraus? Charlotte lacht: „Quatsch. Wen’s interessiert: Meine Maße sind 89-75-95. Damit passe ich super in Jasmins Klamotten rein und fühl‘ mich dabei sauwohl!“

„Sich wohlfühlen gehört unbedingt dazu, wenn man sich auf das Abenteuer Ausland einlässt“, weiß Stepin-Jugendberaterin Julia Hildebrandt (29) aus eigener Erfahrung. Die deutsche Jugendaustausch-Organisation mit Sitz in Bonn vermittelt Jahr für Jahr über 3.500 junge Menschen in alle Welt. „Und die kommen fast alle reifer mit einem großen Schatz an Erfahrungen zurück, denn sie haben sich eingelassen auf eine fremde Kultur. Das verändert auch den Blick auf ‚Good old Germany‘ ganz entscheidend.“

Ganz nebenbei lasse sich eine Sprache nirgends besser als im jeweiligen Land erlernen. Gut für den Lebenslauf sei es allemal. Charlotte fasst das alles so zusammen: „Ich war vorher ein kompletter Schisser und hing am Rockzipfel meiner Eltern. Die sind heute stolz auf mich, dass ich mich das getraut habe. Und ich erst!“ Ist ja auch viel schwieriger, als auf Stöckelschuhen nur wenige Meter weit über den Laufsteg zu staksen und dann umzukehren.

Foto: Gerd Dreßen/ Web: goodcomm.de